Interview mit Anne Kuhlmeyer

Henny Hidden: Würdest Du Deinen Roman als einen politischen Kriminalroman bezeichnen? Welche Kriterien wären für Dich unerlässlich, wenn Du einen politischen Kriminalroman lesen möchtest?

Anne Kuhlmeyer: Es fällt mir immer schwer, die eigenen Texte zu kategorisieren. Aber gut. Der Roman behandelt ein aktuelles politisches Phänomen, nämlich die Zunahme rechten Gedankengutes in der Gesellschaft und deren konkrete Organisation. Gewalt – organisierte, situative, staatliche – spielt eine Rolle. Insofern kann man sicher von einem politischen Kriminalroman reden.
Das einzige Kriterium für einen politischen Kriminalroman ist nach meiner Ansicht die Frage, ob er sich mit politischen Themen auseinander setzt. Ob ich den Roman dann lesen wollte, hängt nicht allein von der Thematik ab, sondern ebenso von der ästhetischen Umsetzung.

Henny Hidden: Die Geschichte fängt mit Marlene Katz an, einer Ermittlerin aus Coesfeld, die zu einem Suizidfall gerufen wird, der im Verlaufe der Handlung eine Rolle spielen wird. Vorerst sieht für sie aber alles nach einem normalen Polizistenalltag aus. Wenige Tage danach wird Marlene aufgrund eines dummen
Fehlers aus ihrem Polizeiberuf aussteigen und Hals über Kopf einer zufälligen Kneipenbekanntschaft in die Stadt Leipzig folgen. Ein sehr eigenwilliger Charakter einer Protagonistin, die spontan, unkontrolliert, wenig diszipliniert handelt und augenscheinlich ihrem Beruf wenig nachtrauert. Kein positiver Eindruck, den Marlene in den ersten Seiten hinterlässt. Lag es in Deinerr Absicht, die Frauenfigur von Anfang an von einem Polizistenimage zu lösen?

Anne Kuhlmeyer: Vielleicht kommt es darauf an, welches Bild man von einer Polizistin oder „der Polizei“ hat und woher man dieses Bild bezieht. Möglicherweise ist unser Bild vom „guten Polizisten“, der Fälle aufklärt und das „Böse“ einsperrt, stark geprägt von Film, Fernsehen und Literatur. Ich denke, Polizisten sind Leute, die einen wichtigen Grund haben, ihren Beruf auszuüben (wie andere Leute andere wichtige Gründe haben, den ihren auszuüben) – Geld, Sicherheit, Macht, Gemeinschaft, oder: bei „den Guten“ zu sein, zum Beispiel. Marlene mag impulsiv reagieren, aber ihr brechen eben gerade diese bedeutsamen Gründe weg. Sie wird ziemlich unfreundlich behandelt und hat durch eigenes Verschulden berufliche Folgen zu erwarten. Insofern ist es nur konsequent und selbstbestimmt, dass sie den Polizeijob hinschmeißt, von dem sie als Frau in einer männlich geprägten Umgebung nicht viel zu erwarten hat. Da agiert sie nicht funktional als Polizistin, sondern motivational als Mensch.

Henny Hidden: In Leipzig fängt Marlene bei einer Sicherheitsfirma an zu arbeiten. Sicherheitsfirmen haben in der Realität nicht das beste Image. Im Buch reflektiert die Protagonistin wenig über ihre neue Arbeit, die sie ja, wie zu sehen ist, intellektuell zu unterfordern scheint. Man hat das Gefühl, dass sie sich an die Firma bindet, weil sie in den Chef verliebt ist, und es verstärkt sich mit der Zeit immer mehr. Wie sollte denn Deine weibliche Hauptfigur vom Leser gesehen werden? Ich dachte oft, dass hier weibliche Schwächen demonstriert werden sollten, die den Leser auf eine romantische Ebene führen. Sich dem Augenblick hingeben, sinnlich wirken und das verpönte Kühle, Rationale den Machern überlassen.

Anne Kuhlmeyer: Na, eine romantische Liebe ist das nicht, mehr eine notwendige. Marlene braucht zu allererst Basics: Arbeit, Geld, Wohnung, und sie kann nicht gut allein sein. Schönfelder hat, was sie braucht. Daneben ist er schon ein schicker, schillernder Typ. Er hat einen Plan, sie nicht. Außerdem verbindet sie etwas – die jüdische Herkunft, zu der Marlene wenig Zugang, aber an der sie umso mehr Interesse hat. Als orientierungslos in einer Krisensituation und infolgedessen suchend hab ich Marlene empfunden, nicht als schwach. Immerhin ist sie mutig genug, ihr Leben auf den Kopf zu stellen.
Der Leser wird sich über Marlene sein eigenes Bild verschaffen, das ja maßgeblich von persönlichen Erfahrungen und individueller Weltsicht abhängt.

Henny Hidden: Der Macher ist ihr Gegenpart. Es ist Daniel Schönfelder, der die Sicherheitsfirma leitet. Er ist ständig unterwegs und scheint im Hintergrund die Fäden zu ziehen. Zunehmend schleicht sich die Ahnung ein, dass unter seiner Führung kriminelle Machenschaften ablaufen. Die Verhaltensweisen
seiner Mitarbeiter verstärken das Gefühl. Auf der anderen Seite erscheint Daniel in einem hellen Licht, weil er als Jude aus Israel nach Deutschland zurückkehrt, um unter seinen Landsleuten zu leben. Das klingt nach Aussöhnung mit der Geschichte. Wie Du aus diesen Eckpunkten ein Spannungsfeld erzeugst, finde ich gelungen. Nur Marlene erscheint in ihrem Verhältnis zu Daniel zu klein, weil sie es vorzieht, sich nirgendwo einzumischen und meistens auf Daniels Bitten nur reagiert, anstatt zu agieren. Erst gegen Ende, als sie die Beziehung zu Gregor wieder aufnimmt, scheint sie aufzuwachen.

Anne Kuhlmeyer: Marlene hat für sich keinen richtigen Platz gefunden. Sie bleibt zunächst vage und den undurchsichtigen Umständen ausgeliefert. Wobei das Nicht-Einmischen, das Lieber-nicht-wissen-wollen Strategien sind, wie wir sie aus autoritären Systemen kennen. Die Sicherheitsfirma ist so eines. Sie verwirklicht ihren Autoritätsanspruch durch Kontrolle und Ideologie.
Schönfelder bezieht seine Attraktion für Marlene unter anderem aus dem Umgang mit seinem Jüdischsein.
Eine Aussöhnung mit der Geschichte? Schönfelder würde nicht Leute für schwerkriminelle Aktivitäten beschäftigen, wenn er ausgesöhnt wäre. Marlene und Schönfelder teilen den Konflikt, nirgendwo so richtig beheimatet zu sein, und lösen ihn auf unterschiedliche und durchaus nicht immer gelungene Weise oder etwa moralkompatibel.

Henny Hidden: Dein Krimi thematisiert die Rolle der rechten Szene in unserer Gesellschaft. Ihre Aktivitäten, ihre Denkweisen und ihre Einbindung in gesellschaftliche Strukturen. Die Mitglieder wirken zum größten Teil unsympathisch. Es fällt auf, dass alle anderen Bürger, die nicht zu diesem Umfeld gehören, sich
gleichgültig oder negativ über die Vereinigung urteilen. Das Gute und das Böse werden eindeutig getrennt. Ich denke, wenn sich Figuren auf so ungleichen Böden entwickeln, bringt das wenig Überraschung für den Leser. Kann es nicht sein, dass bei einer so eindeutigen Rollenverteilung auch Chancen verspielt werden? Dass dem Leser die Grundlage genommen wird, die Figuren anzunehmen oder abzulehnen?

Anne Kuhlmeyer: Interessant an Ihrer Frage finde ich die Differenz zwischen Intention und Rezeption.
Ich wüsste jetzt gar keine Figur, die nur „gut“ oder nur „böse“ wäre. Die haben doch alle ihre Gründe für Regelverstöße oder eben für ihr Handeln nach gesellschaftlichen Normen. Der Angepassteste ist vielleicht Marlenes Ex-Kollege Gregor. Ob der deswegen „gut“ ist? Wenn es so wäre, dass es „Gute“ und „Böse“ gäbe, wäre es ja einfach, sich einer Figur anzuschließen. Ich meine, wer will schon „böse“ sein? Und wer will etwas mit „den Bösen“ zu tun haben? Nehmen wir Katja, die Ärztin. Ist sie nicht freundlich und hilfreich, gnadenlos und spaltend? Oder ist die Leiterin der Gruppe des „Rings nationaler Frauen“ nicht engagiert, umgänglich und mitfühlend, daneben knallhart und demagogisch? Ist Lara nicht versorgend und egoistisch? Natürlich sind die Figuren innerhalb ihrer jeweiligen Systeme loyal. Das ist in der Tat ein zentrales Problem.

Henny Hidden: Ich will noch mal von einer anderen Seite herangehen. Denken wir an den Journalismus, dessen Arbeit ja durch eine unabhängige Haltung geprägt sein sollte. In Wirklichkeit nimmt jeder Journalist mit jedem Bericht Stellung zu einem Problem. Mit der Auswahl der Personen und den Informationen, mit den
Bildern, mit den Fragen an den Beteiligten, wird der Leser bzw. der Zuschauer auf eine bestimmte Art, emotionale wie verstandesmäßig angesprochen. Gerade bei den Journalisten meinungsbildender Blätter und Fernsehsender fällt besonders auf, dass sie von einer roten Linie nicht abweichen. Manchmal denke ich, dass erst Historiker in der Lage sein werden, sich der Wahrheit anzunähern und ihr aus verschiedenen Blickwinkeln gerecht werden. Wie ist das mit der Literatur? Was sollte sie im Gegensatz
zu der kurzlebigen Presse leisten? Inwieweit sollte die (politische) Haltung eines Schriftstellers im Roman präsent werden? Sehen Sie sie als ein Manko oder eine Stärke?

Anne Kuhlmeyer: Der Blick auf die eigene Zeit ist naturgemäß einer mit wenig Distanz. Man lebt ja mitten in ihr. Dennoch denke ich, dass sich Literatur aktuellen politischen Themen widmen kann und soll. Immerhin hat sie mehr Raum als der Journalismus, eine Geschichte zu erzählen und den soll sie nutzen. Wir leben unter irgendwie gearteten politischen Verhältnissen und Literatur wird sie so oder so abbilden, denn ein Schriftsteller zeigt auch eine politische Haltung, wenn er keine zeigt. Also kann er auch gleich im Erzählen Stellung beziehen. Im Erzählen wohlgemerkt, in den Figuren, in ihrem Tun, nicht abstrakt analytisch. Das kann der Journalismus besser. Literarisch eine politische Haltung zu beziehen, verstehe ich als Notwendigkeit.

Henny Hidden: Das führt mich direkt zum nächsten Punkt. Du hast ein brisantes politisches Thema aufgeworfen, das in der Nachfolge der Frage: „Warum haben wir uns nicht gewehrt?“ steht. Wenn ich es richtig interpretiere, hast Du eine sehr brutale Antwort gefunden. Eine Antwort, die mehr zum Nachdenken
anregt als eine gültige Lösung darzustellen. Wenn Leser sich damit auseinandersetzen, hat Literatur auch einen Sinn gefunden. Ich möchte mal drei Sätze aus der vorletzten Seite Deines Krimis zitieren, die die Gedanken der ehemaligen Polizistin Marlene Katz wiedergeben. „Daniel hat recht gehabt. Man musste die Dinge selbst in die Hand nehmen. Etwas behutsamer vielleicht, damit man überlebte.“ Weder Marlene, noch die vor Ort anwesende Polizei vermochten, das schreckliche Geschehen zu verhindern. Teilst Du mit Deiner Figur Marlene die pessimistische Sicht?

Anne Kuhlmeyer: Die Frage: Warum haben wir uns nicht gewehrt, die sich ja eher auf die deutsche Vergangenheit bezieht, wird ein wenig in dem Mikrokosmos der Sicherheitsfirma beleuchtet. Auf der einen Seite, wehrt man sich gegen den Rechtsruck, auf der anderer Seite gibt es wichtige Gründe für die Einzelnen, sich auf etwas einzulassen, das durchaus nicht rechtstaatlichem Miteinander entspricht.
Und NEIN! Ich teile Marlenes Sicht überhaupt nicht. Ich habe eine demokratische Grundhaltung und vertraue zu einem großen Teil demokratischen Mitteln. Ich stelle nur die Frage: Was wäre, wenn die versagen würden?
Der Roman ist ein Konstrukt im Konjunktiv, das nicht ganz unironisch gemeint ist.

Henny Hidden: Wie geht es weiter mit Marlene Katz? Ich rate mal. Sie wird nicht mehr bei der Polizei arbeiten. Sie wird bei keiner Sicherheitsfirma arbeiten. Sie wird Sex haben, aber vorerst keinen Mann mehr lieben. Sie wird endlich unabhängig sein.

Anne Kuhlmeyer: Ich hab mich auch schon gefragt, wie es mit ihr weiter geht. Ich werde Dich fragen müssen. Die Polizei ist erledigt, ja, eine Sicherheitsfirma auch. Vielleicht macht sie sich selbständig, mal sehen. Doch warum soll sie keinen Mann mehr lieben? Sie muss ihn ja nicht gleich heiraten. Die Liebe ist ein komplexer soziophysiologischer Vorgang, auf den zu verzichten, wenig mit Unabhängigkeit zu tun hätte. Klar, sie hat einige Probleme an der Backe. Umso besser. Ich bin total neugierig, ob und wie sie sie lösen wird.

Henny Hidden: Ja, ich auch. Vielen Dank für das Interview.

Interview mit Susanne Rüster

Im Februar 2012 ist Susanne Rüsters Krimi “Der letzte Tanz: Kreuzberg explosiv!” in der edition karo, Verlag Josefine Rosalski, erschienen.
Ihr Krimi bietet nicht nur einen spannenden Einblick in das Kreuzberger Leben, sondern zeigt auch, wie problematisch die Zusammenarbeit zwischen einer Staatsanwältin und einem polizeilichen Ermittler verlaufen kann. Ein Grund, mich mit der Autorin, die derzeitig als Richterin tätig ist, über Fiktion und Wirklichkeit in Krimis zu unterhalten.

Henny Hidden: Als ich Dein Buch gelesen habe, kam mir mehrmals der Gedanke, dass Dein Krimi bestimmt viele Touristen ansprechen würde. Er spielt in Kreuzberg, ein Ort, der von Berlintouristen bevorzugt aufgesucht wird, mit Kreuzberger 1. Mai Krawallen weiß in der Regel ein Bürger aus Deutschland etwas anzufangen, auf gierige Immobilienspekulanten sind Menschen nie gut zu sprechen, und die kreative Kreuzberger Szene zieht viele magisch an. Außerdem beschreibst du sehr schön die Szenelokale im Kiez, die sich für jeden Berlinbesuch lohnen. Also, wer Berlin besuchen will und einen unverstellten wie spannenden Eindruck über das Leben in Kreuzberg und auch anderswo in Berlin bekommen will, der sollte unbedingt Dein Buch lesen.

Susanne Rüster: Danke.

Henny Hidden: Kurz zum Inhalt:
Eine Gasexplosion zerstört eine Fabrik, die bis zu dem Zeitpunkt von den Mitgliedern eines Tanztheaters besetzt gehalten wurde. Die Leiterin des Theaters findet infolge der Explosion den Tod. Geschah dies, weil jemand mit einem heißen Abriss die Räumung des Theaters beschleunigen wollte oder steckt dahinter eine Bürgerinitiative, die ihr Unbehagen gegenüber den Umbauplänen des neuen Immobilienbesitzers radikal zum Ausdruck brachte? Ein klassischer Whodunit Krimi. In deinem Roman kommt aber eine interessante Komponente hinzu. Wir haben es nicht nur mit einer polizeilichen Ermittlung zu tun, nicht nur mit der Staatsanwaltschaft, die die Oberhand besitzt, nein, uns begegnen der polizeiliche Ermittler Pfeil und die Staatsanwältin Kaiser, die beide ermitteln und deren Kooperation manchmal gewaltig hakt. Diese Konstellation, deren Reibungspunkte du sehr genau beschreibst, sind wohl das, was Deinen Krimi besonders auszeichnet.

Susanne Rüster: Ja, es geht um Kompetenzen. Der Tatort, die Arbeit vor Ort – das ist die Domäne des Kripomannes. Aber die Staatsanwältin Kaiser, 30 Jahre alt, frisch von der Uni und voll von theoretischem Zeug, schaltet sich in die Ermittlungen vor Ort ein. Zu sehr, für den Geschmack von Kommissar Pfeil. Der alte Haudegen liebt seine Unabhängigkeit über alles und will die erste Spur, den wichtigen Zeugen, das verräterische Beweismittel selbst finden.

Henny Hidden: Bleiben wir mal bei der Staatsanwältin Natalia Kaiser. Sie ist jung, ehrgeizig und neu in dem Ressort. Ihr Spannungsfeld reicht vom Oberstaatsanwalt Schreiber, mit dem sie ein kurzes Verhältnis hatte, bis zum Ermittler Pfeil des LKA, mit dem sie zusammen den Mordfall bearbeitet und den sie als Konkurrenten empfindet. Einerseits provoziert sie die Abgrenzung durch ihr ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Da werden schon mal Gedanken gehegt, wie „Als Staatsanwältin dürfte sie fast alles“, ebenso wie ihre herabstufende Bezeichnung des Ermittlers Pfeil als einen Hilfsbeamten. Welches Bild wolltest du von dieser Frau mit dieser Position vermitteln? Inwieweit wolltest Du dem Leser ein getreues Abbild der Realität liefern?

Susanne Rüster: Das ist schon realitätsnah. Und außerhalb der meisten Fernsehkrimis. Die Strafprozessordnung, die für alle Strafverfolger gilt (also Kripo wie Staatsanwaltschaft), stammt aus dem Jahr 1879 (sie ist später öfter geändert, veränderten Moralvorstellungen oder gewachsenen technischen Möglichkeiten angepasst worden). Bis 2004 bezeichnete das Gesetz tatsächlich die Kriminalpolizisten als „Hilfsbeamte“, die den „Anordnungen der Staatsanwaltschaft Folge zu leisten haben“. Mittlerweile ist der „Hilfsbeamte“ durch die „Ermittlungsperson der Staatsanwaltschaft“ ersetzt worden. Das ändert aber nichts daran, dass die Staatsanwaltschaft die wesentlichen Entscheidungen trifft, also, ob sie beim Gericht einen Durchsuchungsbeschluss oder einen Haftbefehl gegen jemand beantragt und ob sie gegen jemand Anklage erhebt, d. h. vors Strafgericht bringt, oder das Verfahren einstellt („niederschlägt“). Daher wird die Staatsanwaltschaft als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ bezeichnet.
Die Realität sieht aber so aus, dass der Staatsanwalt die Ermittlungen nur selten allein führt. Er braucht die Kripo, denn er ist Jurist und nicht in Kriminalistik ausgebildet. Er hat keine Dienstwaffe und verfügt nicht über die Ausstattung der Polizei (Mannschaften, Fahrzeuge, Waffen, Spurensicherung, Kriminaltechnik etc.). Die meisten Verbrechen würden ohne die Polizei nicht aufgeklärt. Daher schaltet sich der Staatsanwalt nur selten von Anfang an in die polizeilichen Ermittlungen ein, etwa bei Kapitalverbrechen, bei Wirtschaftsverbrechen mit großen Schäden, bei organisierter Kriminalität (Mafia) oder bei Straftaten, die die Öffentlichkeit stark berühren (z. B. die Verfahren gegen die Mitglieder des Polit-Büros der DDR) oder sehr interessieren (z. B. Kachelmann-Prozess).
Zurück zum Roman: Da die Staatsanwältin Kaiser schnell erkennt, dass Kommissar Pfeil ihr kriminalistisch haushoch überlegen ist, überspielt sie ihre Unsicherheit manchmal mit forschem Auftreten. Aber die beiden finden auch heimlichen Gefallen aneinander, verdrängen das aber mit Abgrenzung, und kommen sich erst im Augenblick der Niederlage näher.

Henny Hidden: Du arbeitest als Richterin in einem gesellschaftlichen Bereich, in der Du Dich täglich streng an Gesetzesvorgaben halten musst. Ist das Krimischreiben für Dich auch so eine Art Ausgleich, um Grenzen überschreiten zu können, die Dir sonst nicht erlaubt sind?

Susanne Rüster: Wenn ich eine Figur etwas tun lasse, was sie nach dem Gesetz nicht darf, ist das für mich spannend. Mich interessieren Fragen wie Selbstjustiz, Sterbehilfe etc., also Taten, die die Grenze des Erlaubten überschreiten, aber durch einen starken Leidensdruck motiviert sind. Das Schreiben benutze ich aber nicht, um Dampf abzulassen, nach dem Motto: Endlich kann ich meinen Chef, Kollegen, Konkurrenten, Geschäftsfeind, Ehemann, Liebhaber, Nebenbuhlerin umbringen.

Henny Hidden: Ich denke jetzt auch mal an die Verurteilung von Personen, deren Verhalten man unter moralischen Gesichtspunkten betrachtet vielleicht versteht und auch billigen kann und die einen emotional nicht loslassen. Bilden diese Konfliktkonstellationen, die Du in deinem Arbeitsalltag erlebst, einen Ansatzpunkt für Dich, wenn Du Krimis schreibst?

Susanne Rüster: Ich bin nicht mehr im Strafrecht tätig, daher geht es in meinem Arbeitsalltag nicht um Verurteilung von Personen. Ein Ansatzpunkt für einen Krimiplot sind die von dir angesprochenen Konflikte auf jeden Fall. Der Richter ist aber ans Gesetz gebunden. Gesetze sind ja dazu da, das menschliche Miteinander verbindlich zu regeln, was auch bedeutet, für Verhaltensweisen, die die Mehrheit der Menschen als verletzend, unerlaubt, anstößig, sittenwidrig etc. empfindet, Sanktionen zu schaffen. Mich als Autorin interessieren aber mehr die Fälle, denen das Gesetz, und damit auch das Gericht, nicht gerecht wird, etwa bei einem Straftäter, der Selbstjustiz übt, weil er nicht mehr an den Staat als Strafverfolgungsinstanz glaubt. Oder Delikte, mit denen sich jemand aus einer unerträglichen Zwangslage befreit, etwa die misshandelte Frau, die endlich zurück schlägt. Oder eine Verurteilung nach Indizien, wenn der Verurteilte bis zuletzt seine Unschuld beteuert (z. B. Fall Vera Brühne).

Henny Hidden: Mich würde überhaupt interessieren, warum Du dich gerade dem Genre Krimi zugewandt hast? Worin siehst Du Deine hauptsächliche Motivation?

Susanne Rüster: Als gelernte Staatsanwältin hatte ich mit Verbrechen zu tun. Es hat für viele Menschen eine dunkle Faszination. Ich war in der Wirtschaftskriminalität tätig, daher interessieren mich die „großen“ Verbrecher, etwa erfolgreiche Unternehmer oder bekannte Politiker, und die Frage, wie Öffentlichkeit und Strafverfolger mit ihnen umgehen, und wie die sich verteidigen. Ebenso interessant sind ihre Gegenspieler, die durch Machenschaften der „Großen“ geschädigt wurden, und die versuchen, ihr Recht durchzusetzen.
Am Genre Krimi reizt mich, dass ich bestimmte Themenbereiche einbringen kann, die mich bewegen, z. B. in Berlin die fortschreitende Gentrifizierung, die sich zwar positiv auf das äußere Stadtbild auswirkt, mit der aber auch eine Verdrängung von alteingesessenen, einkommensschwächeren Menschen einhergeht, was man in Berlin in bestimmten Gegenden, z.B. in Friedrichshain-Kreuzberg, aber auch in Neukölln, erleben kann.

Henny Hidden: Kommen wir mal zu der Beziehung Natalias zum Oberstaatsanwalt. Kraft seines Amtes entzieht der Oberstaatsanwalt der Staatsanwältin den Fall, weil diese sich zu vorschnell auf einen Täter konzentrierte. Natalia vermutet hinter der Entziehung des Falls die Rache des Oberstaatsanwaltes, der es nicht vertragen kann, dass sie abrupt die Liebesbeziehung beendete. Wie subjektiv empfindest Du denn solche arbeitsrechtliche Entscheidungen? Ist es Dir wichtig, im Krimi auf den subjektiven Aspekt von gerichtlichen oder auch die im Arbeitsprozess getätigten Entscheidungen hinzuweisen?

Susanne Rüster: Auf jeden Fall. Entscheidungen werden von Menschen getroffen, und in jedem Berufsalltag spielen Geltungsbedürfnis, Rivalität, Ehrgeiz, Kumpanei, oder wie im Fall des Oberstaatsanwalts, Rache und Ausspielen von Macht eine Rolle. Allerdings ist der Oberstaatsanwalt Profi genug, um sein Handeln nach außen mit objektiven Kriterien zu begründen. Er kann ja schlecht sagen, dass er ihr den Fall entzieht, weil er sich als verlassener Mann rächen will, auch wenn dies als Motiv mitspielt. Nein, er handelt erst, als Staatsanwältin Kaiser einen Fehler begangen hat. Aber das Interessante beim fiktiven Schreiben ist ja, Gedanken und Gefühle sichtbar zu machen, die man in der Realität des Berufsalltags so nicht sieht. Der Oberstaatsanwalt handelt nach außen im Rahmen seiner Kompetenz.
Subjektive Aspekte von gerichtlichen Entscheidungen – schwierige Frage. Richter sind auch Menschen. Aber es darf keine „Gefühlsrechtsprechung“ geben, denn die kann zu neuen Ungerechtigkeiten führen. Das Gesetz versucht Objektivität zu erreichen, etwa indem Verfolgung und Anklage eines Straftäters in der Hand des Staatsanwalts liegen, seine Anklage aber vom Strafgericht überprüft wird. Steht der Angeklagte vor Gericht, entscheiden, jedenfalls in gravierenden Fällen, mehrere Richter, darunter zwei Schöffen – für den „natürlichen Menschenverstand“. Vom Strafjuristen (natürlich gilt dies auch für andere Rechtsbereiche, aber wir sprechen ja vom Krimi) erwartet man, dass er sich nicht von jeder inneren Aufwallung beeinflussen lässt. Dies gilt ganz besonders für den Richter, der die Argumente von Staatsanwaltschaft und Verteidigung abwägen muss. Dies gilt aber auch für den Staatsanwalt, der im deutschen Strafprozess objektiv ist, also im Zweifel für den Angeklagten. Das ist hier anders geregelt als im anglo-amerikanischen Raum, in dem der Staatsanwalt auch Partei ist. Der Strafverteidiger darf parteiischer sein. Was er aber nicht darf, ist, die Unwahrheit sagen, um seinen Mandanten zu entlasten, er darf auch nicht die Ermittlungen beeinträchtigen, indem er belastende Beweise wegschafft oder Zeugen zur Falschaussage verleitet.

Henny Hidden: Ferdinand von Schirach sagte mal, wenn ich ihn richtig verstanden habe, dass die Wahrheit für das Gericht sowie die strafrechtliche Verurteilung zweitrangig sind. Bei einer Verurteilung gilt nicht, inwieweit eine moralische Schuld besteht, sondern wie justitiabel ein Verbrechen ist. Der Leser will aber in erster Linie erleben, dass ein Verbrechen von der Gesellschaft zur Anklage gebracht wird, sozusagen gesühnt wird. Ist es Dir wichtig, diesen Widerspruch in einem Justizkrimi herauszuarbeiten?

Susanne Rüster: Ja. Das betrifft das Spannungsfeld zwischen gesetzmäßig fixierter Schuld und moralisch empfundener Schuld. Im Idealfall stimmt beides überein. So empfinden die Menschen zum Beispiel einen Mord aus Habgier als zutiefst verwerflich und ebenso beurteilt es das Strafgesetz. Dieser Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. Manchmal aber stimmen menschliches Empfinden und Justizförmigkeit nicht überein. So wird zum Beispiel ein Mensch, der gesundheitliches Leiden eines Nahestehenden mit erleben muss, aber nicht helfen kann, wegen Totschlags verurteilt, wenn er den Leidenden tötet (etwa den Nahrungsschlauch kappt). Geschieht dies mit Einwilligung des Leidenden, ist es Tötung auf Verlangen, ein nicht so schwer bestraftes Delikt. Der Richter muss in solchen Fällen verurteilen, auch wenn er Verständnis für das Handeln hat, berücksichtigt moralische Beweggründe aber bei der Höhe der Strafe. Die Tötung auf Verlangen und aus Mitgefühl ist gerade Gegenstand des französischen Films „Liebe“.
Wenn du sagst, der Leser möchte, dass ein Verbrechen von der Gesellschaft zur Anklage gebracht wird – meinst du Selbstjustiz? Ein großes Thema, natürlich auch in der Literatur. Oder sollte ein Gericht nur urteilen, wenn es sich einig ist mit dem Gefühl der Gesellschaft? Das kann sehr auseinanderdriften, die Gesellschaft als solche gibt es ja nicht. Verbrechen wird nach vorgegebenen Regeln und von dafür ausgebildeten Personen gesühnt – das ist für den Einzelnen nicht immer zufriedenstellend und es kann dazu führen, dass er den Richterspruch nicht akzeptiert. Ich glaube trotzdem nicht, dass auf allgemein gültige Regeln verzichtet werden kann. Wenn jeder seine eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit durchsetzen würde, käme es auch zu Verletzungen.
Verbrechen von der Gesellschaft zur Anklage bringen – vielleicht durch den privaten Ermittler? Wenn der glaubwürdig dargestellt wird, könnten sich viele Menschen mit ihm identifizieren. Dies ist eine originelle, aber unrealistische Art, Verbrechen zu verfolgen. Ein derartiger Ermittler kann nur Zuarbeiter der Kripo sein, die über ganz andere technische Mittel zur Verbrechensaufklärung und auch zum eigenen Schutz verfügt. Denkbar wäre auch eine Privatperson, die von einem Verbrechen besonders betroffen ist, und die von sich aus Ermittlungen anstellt, die zum Täter führen. Will man aber realitätsnah schreiben, was nicht zwingend ist, funktionieren solche privaten Ermittler nur begrenzt. Für bestimmte Maßnahmen, etwa Durchsuchung, Festnahme, benötigt eine Privatperson einfach die Polizei, sonst bringt sie sich selbst in Gefahr oder macht sich selbst strafbar. Denkbar und interessant wäre ein Mensch, der in Nothilfe handelt, der also jemand verletzt, der z. B. gerade eine andere Person vergewaltigen, ausrauben oder zusammenschlagen will.

Henny Hidden: Du legst ja in Deinen Krimi den Schwerpunkt auf das Zusammenspiel zwischen Staatsanwaltschaft und polizeiliche Ermittlung. Nun hast Du mir verraten, dass Du gerne einen Justizthriller schreiben möchtest. Worin siehst Du die Faszination dieser Gerichtskrimis, wie sie uns vornehmlich aus dem amerikanischen Raum bekannt sind, sei es jetzt Print oder Film? Im Kampf um eine Gerechtigkeit, der im Gerichtsaal ausgefochten wird, in der Auseinandersetzung zwischen Anklage und Verteidigung, mit scharfen Rededuellen, die gerade dadurch einen Thrill durch immer neue Wendungen erzeugen können, in der psychologischen Ausbreitung von gescheiterten Figuren, in der politischen und organisatorischen Verquickung von gesellschaftlichen Systemen oder letzten Endes im Aufzeigen origineller Methoden detektivischer Arbeit, wodurch an einem Ort der letzten Instanz ein staatlich übermächtiges System in die Knie gezwungen werden kann?

Susanne Rüster: Einen Justizthriller möchte ich schreiben, weil ich bei Lesungen oft ein starkes Interesse gespürt habe, wie es denn bei Gericht zugeht. Natürlich wird in einem Justizthriller der Kampf auch im Gerichtssaal ausgefochten. In meinem Plot geht es um den Kampf eines bekannten Unternehmers, der als Mörder vor Gericht steht, und seine Schuld bestreitet. Anklage und Verteidigung werden sich gleichberechtigt gegenüberstehen und beide haben ein starkes Motiv, zu gewinnen. Auf der einen Seite steht eine Oberstaatsanwältin von 60 Jahren, die sozusagen das letzte Mal in den Ring steigt und an ihre physischen und psychischen Grenzen gelangt. Auf der anderen Seite geht es um einen Gewissenskonflikt der Anwältin, deren große Liebe der jetzige Angeklagte war, und der sie zehn Jahre nach der Trennung aufsucht, weil er sie jetzt braucht. Sowohl Staatsanwältin wie Anwältin werden mit widersprüchlichen Erkenntnissen konfrontiert, die sie an ihrer Rolle zweifeln lassen, und sie werden auf die Probe gestellt. Natürlich wird es auch Rededuelle und Gerichtsrituale geben. Vor allem aber geht es mir um Einflüsse von außen. So werden Zeugen unter Druck gesetzt, die Presse springt auf und belagert die mit dem Prozess befassten Personen. Der Angeklagte geht nicht immer ehrlich mit seiner Anwältin um, sondern greift auf eigene hochrangige Kontakte zurück, was wiederum Druck nach „unten“ ausübt. Das Ende wird die Frage nach der Täterschaft des Angeklagten beantworten. Für mich gehört es einfach zu dem Bedürfnis nach Sühne und Gerechtigkeit, dass der Täter seine Strafe erhält. Ob die Strafe dann eine justizförmige Verurteilung ist, ob der Täter sich umbringt oder durch höhere Gewalt oder eine Lynchjustiz zur Strecke gebracht wird, ist eine Frage der Plotgestaltung.

Vielen Dank für das Interview.

Interview mit Ria Klug

Buchvorstellung: Ria Klug -” Kleine Betriebsstörung”

Ria Klug: Kleine Betriebsstörung
broschierte Ausgabe, Softcover, erschienen Februar 2011
220 Seiten, ISBN 978-3-942829-00-7

Zur Person:
Ria Klug, geboren 1955 in Hessen. Nach Abitur und Vordiplom in Geisteswissenschaften absolvierte sie eine Tischlerlehre. Nach über zwanzig Jahren Selbstständigkeit, in denen sie ein Aufbaustudium an der Kasseler Werkakademie für Gestaltung abschloss, begann sie 2008 mit dem Schreiben von Krimis. Seit 2009 ist sie Mitglied im Netzwerk der Mörderischen Schwestern. Ria Klug ist verheiratet und lebt seit Ende 2009 mit Frau und Tochter in Leipzig. Dort engagiert sie sich unter anderem für den CSD und die Vereinigung ›Queerkids‹. Dezember 2010 erschien ihr Kurzkrimi ›Nervende Nachbarn‹ in der Anthologie »Der Taunus lässt büßen 2« des S. Böhme Verlags, Selters.

Interview und Leseprobe

Interview:
Henny Hidden: Liebe Ria, im Februar 2011 kam dein Debütroman „Kleine Betriebsstörung“ auf dem Markt. Warum sollten Krimileser deinen Krimi lesen?

Ria Klug: Meinen Krimi sollten nur Leute lesen, die gerne actiongeladene Geschichten mögen und die kein Problem mit einer Transsexuellen haben. Denn das ist meine Protagonistin.
Ich erzähle eine schnörkellose Story um eine Transfrau, die reichlich blauäugig in eine kriminelle Gesellschaft gerät.Sie stößt mit Menschen zusammen, die, wie sie selbst, nur ihre eigenen Interessen verfolgen. Allerdings mit mehr Macht und Einfluss. Es geht kaum um Aufklärung des Verbrechens, sondern nur um die Frage, ob und wie kommt sie davon.

Henny Hidden: Aus deinem Klappentext wird ersichtlich, dass deine Heldin die meisten Abenteuer in Brasilien besteht. Fühlst du dich mit diesem Land verbunden? Wie sah die Recherche aus?

Ria Klug: Ich habe Freunde, die in der Nähe von Sao Paulo leben und war
2007 dort zu Besuch. Damals hatte ich zwar noch keine literarischen Absichten, aber ich führte ein Reisetagebuch, trieb mich in der Stadt herum, fuhr mit den Überlandbussen und machte mir kleine Skizzen. Das Land übte einen starken Reiz auf mich aus, ob seiner Widersprüchlichkeit.
Was ich noch an Recherche benötigte, konnte ich von zu Hause via Internet erledigen. Für einige Portugiesische Sequenzen habe ich mit muttersprachliche Hilfe geholt.

Henny Hidden: Viele Krimiautorinnen legen Wert auf eine genaue psychologische Charakterisierung ihrer Helden. Wie würdest du das Verhältnis zwischen psychologischen und aktionsreichen Elementen in deinem Krimi einschätzen?

Ria Klug: Bei mir überwiegen die aktionsreichen Elemente, eindeutig.
Aber das ist nicht ohne psychologischen Hintergrund. Ich lasse meine Protagonistin einfach handeln und nicht viel grübeln. Sie ist kein sehr reflektierter Mensch und das, was sie bewegt, lässt sich in ihrem Tun ablesen. Daneben wird die Geschichte in der Ich-Form erzählt und das bedingt natürlich, dass nur ihre Gedanken und Gefühle geschildert werden.

Henny Hidden: Wie siehst du Frauen als Protagonistinnen im Krimi. Sollten sie, wenn die Situation es erfordert, Gewalt anwenden oder generell darauf verzichten?

Ria Klug: Zwei Dinge sind da zu beachten: Die Sozialisation und die körperlichen Möglichkeiten. Mädchen werden in aller Regel von Gewaltanwendung abgehalten. Dazu sind sie als Erwachsene oft auch nicht in der Lage, körperlich viel auszurichten. Natürlich gibt es Gegenbeispiele. Literarisch würde ich da zuerst Liza Cody nennen. Sie schrieb ein paar Krimis mit einer Catcherin als Hauptfigur. Es gibt noch mehr Beispiele. Meine Hauptfigur dagegen hat eine männliche Sozialisation und deswegen ist ihr Gewaltanwendung nicht fremd. Ich finde auch nicht, dass Frauen in Krimis generell darauf verzichten sollten. Das wäre mir viel zu undifferenziert.

Henny Hidden: Mit welchem Gedanken, inhaltlich gesehen, hast du angefangen, den Krimi zu schreiben und mit welchem hast du aufgehört?

Ria Klug: Ich wollte gerne eine Geschichte mit einer Transfrau schreiben und alles hineinpacken, was da an gesellschaftlichen Reibungspunkten vorkommt. Aufgehört habe ich mit dem Gedanken, dass es in erster Linie auf die gute Unterhaltung der Leserinnen ankommt und die sollte nicht durch Überfrachten der Story verhindert werden. Außerdem ist weniger mehr. Das wissen wir aus der Homöopathie. Auch aus diesem Grund kürzte ich die Urversion um ein Drittel.
So bleibt mir noch Stoff für weitere Krimis mit meiner Hauptfigur.

Leseprobe:
Nur noch zwei Tage bis Montag. Ich sitze vor der Hütte und langweile mich. Ein Typ mit einem Handkarren kommt den Weg entlang. Das Auffälligste an ihm sind seine dreckstarrenden Lumpen.
Er wirft die Beutel mit dem Müll, die Marta heute Morgen an den Zaun gestellt hat, auf seinen Karren. Das Knirschen der Karrenräder verklingt. Ich will rein und einen Kaffee holen.
In dem Moment, in dem ich die Nase durch die Tür stecke, landet eine Faust mittendrauf. Fest und ziemlich überraschend. Ich seh Sternchen und kippe um.
Die Sternchen verblassen, weil der Mond aufgeht. Ich hebe den Kopf. Über mir steht ein stämmiger Kerl, der sich die Handknöchel reibt. Sein Kopf ist rund wie ein Kürbis, aus kurzen braunen Locken ragen zwei fleischige Ohrläppchen wie Suppentassenhenkel heraus. Dicke goldene Ringe hängen daran.
Seit ich in São Paulo bin, liege ich für meinen Geschmack zu viel vor den Fußspitzen von unterbelichteten Typen herum.
Aus meiner Nase läuft es warm über die Lippen, es schmeckt nach Blut.
Noch ein paar andere Typen bevölkern die Hütte. Einen kenne ich. Das ist der Gnom, den Alina Pepinho genannt hat. Er sieht aus, als wäre er neulich mit einer Wand zusammen gestoßen.
Neben Dani steht ein junger Schlacks mit einer Hand auf ihrem Schlüsselbein. Sie liegt genau dort, wo der Hals beginnt und das T-Shirt die nackte Haut freigibt. Vor Martas Bett steht ein Typ, der halb gebückt auf jemand darunter einredet. Sein Tonfall ist freundlich und beruhigend, also hat sich der Kleine dort verkrochen.
»Was wollt ihr?«, frage ich und will aufstehen. Mit einem gezielten Tritt befördert mich der Kürbiskopf wieder auf die Bretter.
Aus dem Hintergrund schiebt sich ein Typ im Anzug nach vorne. Er ist klein, moppelig und hat einen graumelierten Bart wie Lula.
»Português?«
»Não, no entiendo.« Das Reden fällt mir schwer.
»Espaniol?«
»Ja, ein bisschen.«
»Wo ist Nelson?«
Pepinho mischt sich ein, zeigt nach nebenan. Der Anzugträger schickt den Kürbiskopf und den Typ vom Bett nach nebenan.
»Aufstehen und hinsetzen.«
Ächzend gehorche ich. Ich bräuchte dringend einen Lappen, um das Blut aufzufangen. Es tropft jetzt nicht nur auf mein Shirt, sondern auch auf die Jeans. Dafür haben Männer wie er natürlich keine Augen. Die hat er auf meinen Busen gerichtet. Damit nicht genug, jetzt kommt er auch noch ran und fühlt.
»Puta, eh …«, grunzt er.
Ich mustere seinen Hosenlatz, dann trete ich. Leider erwische ich ihn nicht richtig. Er flucht und scheuert mir eine. Mir wird für Momente schwarz vor Augen.
Mit einigem Getöse schleifen die Kerle Nelson herbei. Zum Aufwecken haben sie seine Lippe blutig geschlagen. Große Lust auf Widerstand strahlt er nicht aus. Vor dem Anzugträger duckt er sich regelrecht. Der hält ihm einen Vortrag. Pepinho steht dabei und wirft mit zeternder Stimme die eine oder andere Bemerkung ein.
Die Kerle lassen Nelson los. Jetzt darf Pepinho vortreten und zuschlagen. Er macht es nicht routiniert, aber mit Inbrunst. Nelson wehrt sich nicht. Er lässt die Arme hängen und schwankt hin und her.
Dani gibt einen Schreckenslaut von sich. Der Schlacks gräbt seine Finger noch tiefer in ihre Haut, mit der anderen packt er ihren Pferdeschwanz. Sie hält still und die Hand wandert in das T-Shirt hinein.
Pepinho verstaucht sich die Hand und lässt von Nelson ab, nachdem er ihn noch mal getreten hat.
Der Anzugträger redet nun von Geld, soviel kann ich verstehen.
Nelson schüttelt mehrfach den Kopf, während er seinen Kiefer vorsichtig abtastet. Der Anzugträger wendet sich an mich.
»Du musst Geld geben.«
»Woher soll ich Kohle haben, du saublöder Bock?«
»Spanisch reden«, sagt er laut.
»Ich habe nichts, bin pleite. Was glaubst du, warum ich hier hause?«, sage ich.
»Du hast Geld gestohlen beim reichen Arzt. Wo ist das?«
»Wir haben dort nichts gestohlen.«
»Dann …« Er überlegt. »Dann nimmt Toni das Mädchen mit.«
Er zeigt zu dem grinsenden Schlacks rüber, der in Danis T–Shirt herumwühlt. Sie wimmert leise.
»Nimm deine Dreckpfoten da weg. Du, du …« Ich suche ein Schimpfwort. »Du stronzo.«
Die Wut treibt mich vom Stuhl hoch. Ich werde jeden ungespitzt in den Boden rammen.
Die Narbenfresse packt mich am Arm und am Shirt. Der Ausschnitt zieht sich fest in meine Kehle. Ich muss stehen bleiben. Er fasst sofort nach, verstärkt seinen Griff und ich kann nur noch mit den Augen rollen.
»Pass auf«, sagt der Anzugträger, »oder du kommst auch mit. Franco will dich bestimmt gerne haben.«
Ich überlege fieberhaft. Mir muss was einfallen, aber schnell.
»Moment, wartet. Ich habe doch Geld.«
»Ah, du hast Geld? Wo?«
»In meiner Hosentasche. Der soll ich mal loslassen.«
Ein kurzes Kommando, dann kann ich mich wieder bewegen. Mit scharfem Blick verfolgt er, wie ich in meinen
Hosentaschen suche. Die paar Reais lasse ich stecken, um die geht es mir nicht. Rechts hinten werde ich fündig. Ich werfe einen verknitterten Scheck über zehntausend Dollar auf den Tisch. Der Anzugträger nimmt ihn, liest, dreht und wendet ihn und kratzt sich am Kopf.
»Woher hast du das?«
»Hat mir die Klinik gegeben.«
Das stimmt zwar nicht ganz, aber in dieser Situation nehme ich es nicht so genau.
Er überlegt und überlegt. So hat er sich das Geld nicht vorgestellt. Andererseits sind zehntausend Dollar eine heftige Versuchung. Endlich kommt er zu einem Entschluss.
»Gut. Aber wenn der falsch ist, kommen wir zurück. Dann bist du dran. Das Mädchen auch.«
Nelson lässt sich widerstandslos zur Seite schubsen. Durch die offenen Türen hören wir ihre Schritte leiser werden. Wir verharren wie gelähmt.
Andre kommt weinend unter dem Bett hervor und klettert auf Danis Schoß. Ich gehe nach draußen und wasche das Blut aus meinem Gesicht. In dem Spiegelstück sehe ich verheerend aus. Meine linke Wange ist feuerrot, die Nase dick, die Augen geschwollen, obwohl ich nicht geflennt habe, keine Träne, ehrlich.
Ich gehe wieder rein. Nelson sitzt am Tisch und tastet seine Blessuren ab.
»Du verdammter Blödmann, saublöder Depp.«
Nelson buckelt mit einem waidwunden Blick. Er hat zwar nicht verstanden, weiß aber, worum es geht.
»Está PCC«, sagt er leise.
Das sagt mir nichts, ich zucke mit den Achseln.
»Mafia.«
Das klingt ehrfürchtig. Sicher bin ich dumm genug, dass ich keine Angst habe. Bei Nelson ist das anders, er sitzt zusammengesunken am Tisch. Ich koche einen Kaffee, weil ich eine gute Mutter bin. Und weil ich selber einen brauche.
»Obrigada.«
Dani sieht mich mit großen verweinten Augen an. Sieh mal an, das Mädel hat trotz ständigem Fernsehen begriffen, um was es ging.
»Ist schon okay«, sage ich und nehme sie in die Arme. Dann öffnen sich auch bei mir alle Schleusen.