Henny Hidden: Würdest Du Deinen Roman als einen politischen Kriminalroman bezeichnen? Welche Kriterien wären für Dich unerlässlich, wenn Du einen politischen Kriminalroman lesen möchtest?
Anne Kuhlmeyer: Es fällt mir immer schwer, die eigenen Texte zu kategorisieren. Aber gut. Der Roman behandelt ein aktuelles politisches Phänomen, nämlich die Zunahme rechten Gedankengutes in der Gesellschaft und deren konkrete Organisation. Gewalt – organisierte, situative, staatliche – spielt eine Rolle. Insofern kann man sicher von einem politischen Kriminalroman reden.
Das einzige Kriterium für einen politischen Kriminalroman ist nach meiner Ansicht die Frage, ob er sich mit politischen Themen auseinander setzt. Ob ich den Roman dann lesen wollte, hängt nicht allein von der Thematik ab, sondern ebenso von der ästhetischen Umsetzung.
Henny Hidden: Die Geschichte fängt mit Marlene Katz an, einer Ermittlerin aus Coesfeld, die zu einem Suizidfall gerufen wird, der im Verlaufe der Handlung eine Rolle spielen wird. Vorerst sieht für sie aber alles nach einem normalen Polizistenalltag aus. Wenige Tage danach wird Marlene aufgrund eines dummen
Fehlers aus ihrem Polizeiberuf aussteigen und Hals über Kopf einer zufälligen Kneipenbekanntschaft in die Stadt Leipzig folgen. Ein sehr eigenwilliger Charakter einer Protagonistin, die spontan, unkontrolliert, wenig diszipliniert handelt und augenscheinlich ihrem Beruf wenig nachtrauert. Kein positiver Eindruck, den Marlene in den ersten Seiten hinterlässt. Lag es in Deinerr Absicht, die Frauenfigur von Anfang an von einem Polizistenimage zu lösen?
Anne Kuhlmeyer: Vielleicht kommt es darauf an, welches Bild man von einer Polizistin oder „der Polizei“ hat und woher man dieses Bild bezieht. Möglicherweise ist unser Bild vom „guten Polizisten“, der Fälle aufklärt und das „Böse“ einsperrt, stark geprägt von Film, Fernsehen und Literatur. Ich denke, Polizisten sind Leute, die einen wichtigen Grund haben, ihren Beruf auszuüben (wie andere Leute andere wichtige Gründe haben, den ihren auszuüben) – Geld, Sicherheit, Macht, Gemeinschaft, oder: bei „den Guten“ zu sein, zum Beispiel. Marlene mag impulsiv reagieren, aber ihr brechen eben gerade diese bedeutsamen Gründe weg. Sie wird ziemlich unfreundlich behandelt und hat durch eigenes Verschulden berufliche Folgen zu erwarten. Insofern ist es nur konsequent und selbstbestimmt, dass sie den Polizeijob hinschmeißt, von dem sie als Frau in einer männlich geprägten Umgebung nicht viel zu erwarten hat. Da agiert sie nicht funktional als Polizistin, sondern motivational als Mensch.
Henny Hidden: In Leipzig fängt Marlene bei einer Sicherheitsfirma an zu arbeiten. Sicherheitsfirmen haben in der Realität nicht das beste Image. Im Buch reflektiert die Protagonistin wenig über ihre neue Arbeit, die sie ja, wie zu sehen ist, intellektuell zu unterfordern scheint. Man hat das Gefühl, dass sie sich an die Firma bindet, weil sie in den Chef verliebt ist, und es verstärkt sich mit der Zeit immer mehr. Wie sollte denn Deine weibliche Hauptfigur vom Leser gesehen werden? Ich dachte oft, dass hier weibliche Schwächen demonstriert werden sollten, die den Leser auf eine romantische Ebene führen. Sich dem Augenblick hingeben, sinnlich wirken und das verpönte Kühle, Rationale den Machern überlassen.
Anne Kuhlmeyer: Na, eine romantische Liebe ist das nicht, mehr eine notwendige. Marlene braucht zu allererst Basics: Arbeit, Geld, Wohnung, und sie kann nicht gut allein sein. Schönfelder hat, was sie braucht. Daneben ist er schon ein schicker, schillernder Typ. Er hat einen Plan, sie nicht. Außerdem verbindet sie etwas – die jüdische Herkunft, zu der Marlene wenig Zugang, aber an der sie umso mehr Interesse hat. Als orientierungslos in einer Krisensituation und infolgedessen suchend hab ich Marlene empfunden, nicht als schwach. Immerhin ist sie mutig genug, ihr Leben auf den Kopf zu stellen.
Der Leser wird sich über Marlene sein eigenes Bild verschaffen, das ja maßgeblich von persönlichen Erfahrungen und individueller Weltsicht abhängt.
Henny Hidden: Der Macher ist ihr Gegenpart. Es ist Daniel Schönfelder, der die Sicherheitsfirma leitet. Er ist ständig unterwegs und scheint im Hintergrund die Fäden zu ziehen. Zunehmend schleicht sich die Ahnung ein, dass unter seiner Führung kriminelle Machenschaften ablaufen. Die Verhaltensweisen
seiner Mitarbeiter verstärken das Gefühl. Auf der anderen Seite erscheint Daniel in einem hellen Licht, weil er als Jude aus Israel nach Deutschland zurückkehrt, um unter seinen Landsleuten zu leben. Das klingt nach Aussöhnung mit der Geschichte. Wie Du aus diesen Eckpunkten ein Spannungsfeld erzeugst, finde ich gelungen. Nur Marlene erscheint in ihrem Verhältnis zu Daniel zu klein, weil sie es vorzieht, sich nirgendwo einzumischen und meistens auf Daniels Bitten nur reagiert, anstatt zu agieren. Erst gegen Ende, als sie die Beziehung zu Gregor wieder aufnimmt, scheint sie aufzuwachen.
Anne Kuhlmeyer: Marlene hat für sich keinen richtigen Platz gefunden. Sie bleibt zunächst vage und den undurchsichtigen Umständen ausgeliefert. Wobei das Nicht-Einmischen, das Lieber-nicht-wissen-wollen Strategien sind, wie wir sie aus autoritären Systemen kennen. Die Sicherheitsfirma ist so eines. Sie verwirklicht ihren Autoritätsanspruch durch Kontrolle und Ideologie.
Schönfelder bezieht seine Attraktion für Marlene unter anderem aus dem Umgang mit seinem Jüdischsein.
Eine Aussöhnung mit der Geschichte? Schönfelder würde nicht Leute für schwerkriminelle Aktivitäten beschäftigen, wenn er ausgesöhnt wäre. Marlene und Schönfelder teilen den Konflikt, nirgendwo so richtig beheimatet zu sein, und lösen ihn auf unterschiedliche und durchaus nicht immer gelungene Weise oder etwa moralkompatibel.
Henny Hidden: Dein Krimi thematisiert die Rolle der rechten Szene in unserer Gesellschaft. Ihre Aktivitäten, ihre Denkweisen und ihre Einbindung in gesellschaftliche Strukturen. Die Mitglieder wirken zum größten Teil unsympathisch. Es fällt auf, dass alle anderen Bürger, die nicht zu diesem Umfeld gehören, sich
gleichgültig oder negativ über die Vereinigung urteilen. Das Gute und das Böse werden eindeutig getrennt. Ich denke, wenn sich Figuren auf so ungleichen Böden entwickeln, bringt das wenig Überraschung für den Leser. Kann es nicht sein, dass bei einer so eindeutigen Rollenverteilung auch Chancen verspielt werden? Dass dem Leser die Grundlage genommen wird, die Figuren anzunehmen oder abzulehnen?
Anne Kuhlmeyer: Interessant an Ihrer Frage finde ich die Differenz zwischen Intention und Rezeption.
Ich wüsste jetzt gar keine Figur, die nur „gut“ oder nur „böse“ wäre. Die haben doch alle ihre Gründe für Regelverstöße oder eben für ihr Handeln nach gesellschaftlichen Normen. Der Angepassteste ist vielleicht Marlenes Ex-Kollege Gregor. Ob der deswegen „gut“ ist? Wenn es so wäre, dass es „Gute“ und „Böse“ gäbe, wäre es ja einfach, sich einer Figur anzuschließen. Ich meine, wer will schon „böse“ sein? Und wer will etwas mit „den Bösen“ zu tun haben? Nehmen wir Katja, die Ärztin. Ist sie nicht freundlich und hilfreich, gnadenlos und spaltend? Oder ist die Leiterin der Gruppe des „Rings nationaler Frauen“ nicht engagiert, umgänglich und mitfühlend, daneben knallhart und demagogisch? Ist Lara nicht versorgend und egoistisch? Natürlich sind die Figuren innerhalb ihrer jeweiligen Systeme loyal. Das ist in der Tat ein zentrales Problem.
Henny Hidden: Ich will noch mal von einer anderen Seite herangehen. Denken wir an den Journalismus, dessen Arbeit ja durch eine unabhängige Haltung geprägt sein sollte. In Wirklichkeit nimmt jeder Journalist mit jedem Bericht Stellung zu einem Problem. Mit der Auswahl der Personen und den Informationen, mit den
Bildern, mit den Fragen an den Beteiligten, wird der Leser bzw. der Zuschauer auf eine bestimmte Art, emotionale wie verstandesmäßig angesprochen. Gerade bei den Journalisten meinungsbildender Blätter und Fernsehsender fällt besonders auf, dass sie von einer roten Linie nicht abweichen. Manchmal denke ich, dass erst Historiker in der Lage sein werden, sich der Wahrheit anzunähern und ihr aus verschiedenen Blickwinkeln gerecht werden. Wie ist das mit der Literatur? Was sollte sie im Gegensatz
zu der kurzlebigen Presse leisten? Inwieweit sollte die (politische) Haltung eines Schriftstellers im Roman präsent werden? Sehen Sie sie als ein Manko oder eine Stärke?
Anne Kuhlmeyer: Der Blick auf die eigene Zeit ist naturgemäß einer mit wenig Distanz. Man lebt ja mitten in ihr. Dennoch denke ich, dass sich Literatur aktuellen politischen Themen widmen kann und soll. Immerhin hat sie mehr Raum als der Journalismus, eine Geschichte zu erzählen und den soll sie nutzen. Wir leben unter irgendwie gearteten politischen Verhältnissen und Literatur wird sie so oder so abbilden, denn ein Schriftsteller zeigt auch eine politische Haltung, wenn er keine zeigt. Also kann er auch gleich im Erzählen Stellung beziehen. Im Erzählen wohlgemerkt, in den Figuren, in ihrem Tun, nicht abstrakt analytisch. Das kann der Journalismus besser. Literarisch eine politische Haltung zu beziehen, verstehe ich als Notwendigkeit.
Henny Hidden: Das führt mich direkt zum nächsten Punkt. Du hast ein brisantes politisches Thema aufgeworfen, das in der Nachfolge der Frage: „Warum haben wir uns nicht gewehrt?“ steht. Wenn ich es richtig interpretiere, hast Du eine sehr brutale Antwort gefunden. Eine Antwort, die mehr zum Nachdenken
anregt als eine gültige Lösung darzustellen. Wenn Leser sich damit auseinandersetzen, hat Literatur auch einen Sinn gefunden. Ich möchte mal drei Sätze aus der vorletzten Seite Deines Krimis zitieren, die die Gedanken der ehemaligen Polizistin Marlene Katz wiedergeben. „Daniel hat recht gehabt. Man musste die Dinge selbst in die Hand nehmen. Etwas behutsamer vielleicht, damit man überlebte.“ Weder Marlene, noch die vor Ort anwesende Polizei vermochten, das schreckliche Geschehen zu verhindern. Teilst Du mit Deiner Figur Marlene die pessimistische Sicht?
Anne Kuhlmeyer: Die Frage: Warum haben wir uns nicht gewehrt, die sich ja eher auf die deutsche Vergangenheit bezieht, wird ein wenig in dem Mikrokosmos der Sicherheitsfirma beleuchtet. Auf der einen Seite, wehrt man sich gegen den Rechtsruck, auf der anderer Seite gibt es wichtige Gründe für die Einzelnen, sich auf etwas einzulassen, das durchaus nicht rechtstaatlichem Miteinander entspricht.
Und NEIN! Ich teile Marlenes Sicht überhaupt nicht. Ich habe eine demokratische Grundhaltung und vertraue zu einem großen Teil demokratischen Mitteln. Ich stelle nur die Frage: Was wäre, wenn die versagen würden?
Der Roman ist ein Konstrukt im Konjunktiv, das nicht ganz unironisch gemeint ist.
Henny Hidden: Wie geht es weiter mit Marlene Katz? Ich rate mal. Sie wird nicht mehr bei der Polizei arbeiten. Sie wird bei keiner Sicherheitsfirma arbeiten. Sie wird Sex haben, aber vorerst keinen Mann mehr lieben. Sie wird endlich unabhängig sein.
Anne Kuhlmeyer: Ich hab mich auch schon gefragt, wie es mit ihr weiter geht. Ich werde Dich fragen müssen. Die Polizei ist erledigt, ja, eine Sicherheitsfirma auch. Vielleicht macht sie sich selbständig, mal sehen. Doch warum soll sie keinen Mann mehr lieben? Sie muss ihn ja nicht gleich heiraten. Die Liebe ist ein komplexer soziophysiologischer Vorgang, auf den zu verzichten, wenig mit Unabhängigkeit zu tun hätte. Klar, sie hat einige Probleme an der Backe. Umso besser. Ich bin total neugierig, ob und wie sie sie lösen wird.
Henny Hidden: Ja, ich auch. Vielen Dank für das Interview.