Henny Hidden: Am 26. September ist Dein Krimi „Sonntags Tod“ erschienen. Er wurde bisher sehr positiv aufgenommen, weil Dein Kriminalfall sich auf einer Familientragödie gründet, die Du sehr einfühlsam schilderst. Es scheint auch eine Zahl von LeserInnen zu geben, die mit der Beschreibung von Gewaltexzessen, so wie wir sie aus anderen Krimis kennen, nichts abgewinnen können. Die einen psychologisch gebauten Krimi bevorzugen.
Wie denkst Du darüber? Hattest Du diese Zielgruppe im Auge, als Du losgeschrieben hast?
Carla Berling: Überhaupt nicht. Ich hatte gar keine Zielgruppe vor Augen. Ich wollte eine Geschichte zu diesem besonderen Thema erzählen, und ich möchte, dass so viele Menschen wie möglich sie lesen. Über Gewaltexzesse möchte ich nicht schreiben, denn das erlebt man ja auch, wenn man das schreibt – und das hielte ich nicht aus. Die Abgründe der ganz normalen Leute zu zeigen, den einen Schritt, der ein Opfer zum Täter machen kann, nachzuvollziehen, das war mein Ziel.
Henny Hidden: Sehen wir uns mal die Familienmitglieder an. Da ist das Verhalten von Markus, das von einigen Familienmitgliedern nicht akzeptiert wird.
Letztlich scheitert ja die Familie an ihren Moralvorstellungen, und sie weiß, dass ihre Umgebung, in der sie ansässig ist, diese ebenfalls nicht akzeptieren werden. Ich hab schon überlegt, ob diese Geschichte typisch für den Landstrich ist oder ob er überall in Deutschland spielen könnte. Ich sehe natürlich in Berlin, wo ich wohne, eine ganz andere Toleranzgröße. Einmal liegt es an der Anonymität der Großstadt, aber auch an der kulturellen Vielfalt der Bewohner, die eine größere Toleranz gegenüber anderen mit sich bringt. Was meinst Du? War Dir beim Schreiben klar, dass dein Plot nur unter bestimmten Voraussetzungen funktioniert? Oder vertrittst Du die Meinung, dass Werte und Normen in einem Land ähnlich vorhanden sind z. B. weil wir das gleiche Bildungssystem durchlaufen, gleiche Medien benutzen Wenn ich Deinen Krimi richtig gelesen habe, waren das ja keine Randgruppen, von denen eine Ächtung erwartet wurde, sondern gestandene Geschäftsleute.
Carla Berling: Jeder Krimi – respektive jedes Verbrechen, betrifft eine Familie. Jeder Täter und jedes Opfer haben Eltern und andere Verwandte. Ich glaube nicht, dass „Sonntags Tod“ nur im ländlichen Raum glaubhaft ist, auch auf dem Kiez oder im Veedel einer Großstadt könnte es so passiert sein. Ich habe 29 Jahre lang in einer Kleinstadt gelebt, bin 14 Jahre in einem Dorf mit 3000 Einwohnern aufgewachsen und lebe seit 10 Jahren in einer Großstadt. Die Vorurteile, die Sprachlosigkeit und die Unfähigkeit vieler Menschen, über ihren Schatten zu springen, habe ich überall beobachtet. Von der Anonymität der Großstadt sehe ich hier in Köln zum Beispiel nichts. Wir haben in den Vierteln Infrastrukturen, wie ich sie aus meiner Kindheit kenne: Der Schneider um die Ecke, der Arzt und der Friseur gegenüber, der Kiosk, die Nachbarn, die Verkäufer im Supermarkt – man kennt sich. Es gibt sogar eine Veedelskirmes, zu der jeder geht. „Sonntags Tod“ basiert unter anderem auf zahlreichen Interviews, die ich mit Menschen geführt habe, die in Köln leben. Und fast jeder von ihnen hatte irgendwo seine Wurzeln in der Provinz.
Henny Hidden: Die meisten Deutschen wachsen in der Provinz auf, und so sind wir alle provinziell. Aber die Jugend hat heute viel mehr Möglichkeiten, das Provinzielle durch internationalen Austausch und Freunde im Internet abzustreifen und das Andersartige eher zu akzeptieren. Trotzdem, so verstehe ich dich, kommen wir von unseren Wurzeln nicht los. Deshalb wird von vielen Krimilesern der Regionalkrimi so geliebt. Bei der Krimikritik ist er dagegen ein vielgescholtenes Kind. Hast Du beim Schreiben mal gedacht, dass Du mit einem Regiokrimi in eine Schublade gesteckt werden könntest?
Carla Berling: Ich sehe Sonntags Tod gar nicht als Regionalkrimi, weil er meiner Meinung nach überall spielen kann. Der Schauplatz einer Geschichte muss ja irgendwo sein. Krimis, die in Paris oder London spielen, zeigen auch eine bestimmte Region und dort ansässige Menschen und deren Eigenheiten – genau genommen, müsste man die dann auch Regionalkrimis nennen.
Henny Hidden: Kommen wir mal zurück zu der Großfamilie in Deinem Buch. Wie so oft ist die Mutter der Mittelpunkt der Familie und hält sie zusammen. Du beschreibst da eine Frau, die es vorgeblich aus Liebe zu den Kindern nicht schafft, sich von ihrem tyrannischen Mann zu trennen. Warum? Aus ökonomischer Abhängigkeit, aus Angst vor der Veränderung? Wäre sie frühzeitig gegangen, hätte sie ihren Kindern viel Leid erspart. Was meinst Du? Ist es für Frauen heute leichter, die Kinder zu nehmen, ins Frauenhaus zu gehen und neu anzufangen? Wolltest Du mit Deiner Beschreibung auch ein Stück Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen üben, die Frauen so wenig ermöglichte oder bist Du der Meinung, dass Frauen generell schwächer und unentschlossener (als Männer) sind, ihr Leben in die Hand zu nehmen?
Carla Berling: Die Generation unserer Mütter (ich bin Jahrgang 1960, meine Mutter ist 1940 geboren) hatte weder schulisch noch beruflich oder gesellschaftlich die Möglichkeiten, die wir haben. Als meine Mutter wieder in ihrem Beruf als Lohnbuchhalterin arbeiten wollte, weil wir drei Kinder „aus dem gröbsten raus“ waren, musste sie sich von meinem Vater sagen lassen, dass die Leute dann denken würden, er könne seine Familie nicht ernähren. Sie hat jahrelang gewartet, bevor sie sich Mitte der Siebzigerjahre durchsetzte und arbeiten ging. Frauen dürfen in Deutschland erst seit 1977 ohne das Einverständnis des Mannes erwerbstätig sein! Und es gab bei Ehescheidungen bis 1977 das Schuldprinzip: Bis dahin war eine Scheidung nur möglich, wenn einer die Schuld am Scheitern der Ehe auf sich nahm. Wurde man schuldig geschieden, gab es keine Chance auf das Sorgerecht für die Kinder, und man hatte keinen Anspruch auf Unterhalt. Folglich wurde vor Gericht viel schmutzige Wäsche gewaschen und es wurde gelogen und getrickst. Selbst wenn Ehepaare sich einvernehmlich trennen wollten, musste einer die Schuld auf sich nehmen. Die Frauen waren also nicht unentschlossener, ihr Leben in die Hand zu nehmen, sie taten es auf eine andere Weise. So wie Elsa in „Sonntags Tod“ …
Henny Hidden: Der Vater als Oberhaupt der Familie ist ja ein ziemlicher Widerling, der in seiner Familie nach Belieben schaltet und waltet.
Du führst ihn zwar als Opfer ein, der in seiner Jugend Schlimmes erlebt hat, aber die tiefen Gründe, warum er sich sein ganzes Leben so menschenverachtend gebärdet, habe ich nicht gefunden. Über das Böse im Menschen wird ja viel diskutiert. Und es besteht Uneinigkeit, ob nicht bestimmte Prozesse im Gehirn dafür verantwortlich sind. Einig ist man sich wohl, dass diese Personen nicht mitleiden können. Ich denke schon, dass der Vater fähig war, emotional positiv zu reagieren. Ich glaube, er ist mehr ein Mann seiner Verhältnisse. Kann man das so sagen?
Carla Berling: Die Figur Carl Weyer gehörte zur Generation der Kriegskinder – einer Generation, die emotionsloser erzogen wurde als die, die danach kamen. Aufmerksamkeit, Gespräche, körperliche Nähe, in den Arm nehmen – solche Zuwendungen bekamen diese Kinder kaum, weil die Eltern mit „Überleben“ beschäftigt waren. Ich denke, er hatte also ein emotionales Defizit, das durch seine traumatischen Erlebnisse negativ verstärkt wurde. Insofern stimmt das, ja, er war ein Mann seiner Verhältnisse.
Henny Hidden: Ira Wittekind ist die Frau, die die ganze Geschichte mit ihrem kriminellen Hintergrund aufrollt, als sie ins Dorf zur Beerdigung ihrer Freundin kommt. Und sie findet in Andy einen Kindheitsfreund wieder, der dieser Familie angehört. Dadurch hat Ira nicht nur die Möglichkeit, die einzelnen Familienmitglieder näher kennenzulernen, sondern auch die Möglichkeit, sich in einen Mann zu verlieben. Meinst Du, dass romantische Liebesgeschichten gut zu einem Krimi passen, weil der Leser dann mit einem positiven Gefühl aus dem Buch geht. Oder wolltest Du, dass er zu den tragischen Ereignissen, die sich nun mal im Krimi ereignen, nie das Gefühl für das letztendlich überlegende Gute, wie die Liebe es ist, verliert?
Carla Berling: Weder noch. Diese Liebesgeschichte ist ja wirklich nur ganz am Rande ein Thema – und so soll es auch bleiben. Da ich aber Ira Wittekind als Protagonistin einer Krimi-Reihe etablieren möchte, ist ein Partner an ihrer Seite ganz hilfreich – auch bei den Ermittlungen in den nächsten Büchern. So sind mehrere Perspektiven und verschiedene Denkansätze möglich.
Henny Hidden: Gibt es Kriminalromane, die Dich zum Schreiben inspiriert haben?
Carla Berling: Eigentlich nicht. Ich lese zwar sehr gerne Krimis, wobei ich die Bücher Jussi Adler Olsen, Tana French und Chevy Stevens ebenso mag wie die von Georges Simenon und Agatha Christie, aber zu diesem Krimi haben sie mich nicht inspiriert. Im Grunde sind meine Romane „Im Netz der Meister“ (1 +2) und „Die Rattenfänger“ auch Krimis …
Der verweste Tote in der Müllwohnung hat mich zu „Sonntags Tod“ inspiriert. Diese Szene hat genauso stattgefunden, als ich noch als Reporterin für die „Neue Westfälische“ gearbeitet habe. Auch den Artikel „Dienstbeginn mit einem Toten“ gab es. Das war übrigens der Arbeitstitel zu Sonntags Tod. Den Anblick des Totenschädels im Müll habe ich nie vergessen, und ihm wollte ich eine Geschichte geben, ein (fiktives) Leben. Das ein Leben, das so tragisch endet, nicht gradlinig verlaufen sein konnte, lag auf der Hand …
Henny Hidden: Du hast ja schon einige Bücher veröffentlicht. Fiel es Dir schwerer oder leichter, einen Kriminalroman zu schreiben? Warum?
Carla Berling: Ganz bewusst einen Krimi zu konzipieren war nicht leichter oder schwerer als die anderen Romane zu schreiben – aber es war anders. Weil ich mit der Leiche angefangen habe und dann alles rückwärts konstruiert habe. Ich hatte die Szene mit dem Toten im Müll – sonst nichts. Und dann habe ich zuerst die Figuren erfunden und jeder eine ausführliche Biografie geschrieben. Nun hatte ich Personal, das agieren konnte – und ich habe einiges ausprobiert, indem ich 80 Seiten lang grob die Handlungen entworfen habe. Die Schauplätze ergaben sich so. Ich habe das Kinderheim erfunden und den Hof Eskendor – und alles da angesiedelt, wo ich mich auskenne. Anschließend habe ich einen Kapitelplan gemacht und dann einen Szenenplan. Und dann hab ich losgeschrieben – und das Ergebnis kennst du ja
Henny Hidden: Stimmt es, dass Du über einen nächsten Krimi sitzt? Möchtest Du ein bisschen über ihn verraten?
Carla Berling: Ja, ich plotte zurzeit. Ich habe Ira und Andy und die Familie auf Eskendor, das ist die Basis. Und ich habe eine Location, eine alte, verfallende Fabrik, die romantisch gruselig aussieht. Was könnte in diesem Gebäude gewesen sein? Eine Bank? Eine Klinik? Ein Hotel? Zudem geistern in meinem Kopf drei alte Frauen herum, die innerhalb weniger Tage sterben. Mal schauen, wie sich alles entwickelt!
Henny Hidden: Vielen Dank für das Interview. Es war mir ein Vergnügen.