Interview mit Christine Lehmann

Über „Nachtkrater“, Frauenkrimis und Regionalkrimis:

Nachdem ich den Krimi „Nachtkrater“ fertig gelesen hatte, wollte ich der Autorin eine Menge Fragen stellen. Christine Lehmann war so nett, sie mir zu beantworten.

Henny Hidden: Den Schauplatz Deines Krimis „Nachtkrater“ hast Du auf den Mond gelegt. Was Dir wie ein inspirierender Einfall passierte, wie Du vielfach beschrieben hast, könnte bei der konkreten Umsetzung auch seine Tücken zeigen. Wenn man als Leser jedoch feststellt, wie anschaulich Dir das Beschreiben technischer Zusammenhänge und Abläufe gelungen ist, war dem wohl nicht so. Gab es bei Schreiben einen Punkt, an dem Du gezweifelt hast, ob Deine Kenntnisse oder Fähigkeiten ausreichen, glaubhaft diese Zusammenhänge rüberbringen zu können?

Christine Lehmann: Ständig. Wobei es nicht an den Kenntnissen lag, die man sich ja erwerben kann, sondern daran, dass ich gezweifelt habe, ob ich die Geschichte rund kriege.

Henny Hidden: Welche Zensur hattest Du in Physik?

Christine Lehmann: Ich hatte Physik als Leistungskurs, neben Kunst, war aber nicht besonders gut, weil ich schlecht rechnen kann (Taschenrechner war noch verboten) und mir die Formeln nicht gemerkt habe. Bei allem, was damals ohne Formeln auskam, war ich gut, Beispielsweise bei den sehr theoretischen Überlegungen zur Atomphysik. Aber das liegt dreißig Jahre zurück. Meine Abiturnote war damals, glaube ich 5 Punkte, also eine 4.

Henny Hidden: Ich nehme an, dass Du Dich bei Experten der Raumfahrt sachkundig machtest. Welche Gedanken bewegten Dich, von den fachlichen abgesehen, als Du Dich mit ihnen unterhieltst?

Christine Lehmann: Faszinierend war vor allem die Offenheit der Ingenieure für Literatur und Fragen der literarischen Umsetzung. Ich brauchte von meinen Informanten ja nicht technische Exaktheit, sondern vor allem das Vokabular. Und ich musste wissen, ob das, was ich mir ausgedacht habe, auch so geht. Sie mussten es sich also anhören und dann ja oder nein sagen. Das fällt Fachleuten immer dann schwer, wenn ihnen dazu noch ein Aber einfällt. Die Raumfahrtingenieure, mit denen ich gesprochen habe, waren neugierig auf das, was ich produzieren würde, und interessiert daran, dass es anschaulich wird. Viele Raumfahrtingenieure heute und früher haben Jules Verne gelesen, und ihr Tun grenzt an Science-Fiction, weshalb sie der Fiktion eine durchaus zukunftsweisende gestaltende Kraft zutrauen.

Henny Hidden: Ich habe kürzlich im Fernsehen gesehen, dass in Bremen ein Modell einer internationalen Raumstation nachgebaut wurde. Hast Du es einmal besucht?

Christine Lehmann: Ich habe alle Raumfahrtausstellungen besucht, die zu der Zeit, als ich recherchierte (2006/2007) zu sehen waren. Viele waren es nicht. Außerdem habe ich mir alles an Dokumentationen und Filmen (und Büchern) angeschaut, was ich kriegen konnte. Es ging immer darum, dass ich mir vorstellen konnte, wie sich die Räume anfühlen, in denen sich meine Figuren bewegen. Vor allem, wie eng alles ist.

Henny Hidden: So eine Mondbasis existiert ja als eine abgeschlossene Einheit. War die Wahl des Ortes deshalb für dich so reizvoll, weil eine Mondbasis einen abgezirkelten Raum bildet oder hattest Du es einfach satt, die sich immer ähnelnden Regionalschauplätze zu beschreiben?

Christine Lehmann: Nein, der Plot war nicht der Anlass meines Schreibens, sondern der Raum, also die Idee, auf dem Mond zu sein. Die Orte, die ich wähle, bestimmen in der Regel meine Geschichte, weshalb es auch so wichtig ist, dass ich einen Ort finde, der eine Geschichte hervorbringt, die nur dort spielen kann. Natürlich habe ich schnell gemerkt, dass die Insel-Situation reizvoll ist. Sie ist ein Anknüpfungspunkt an klassische Krimis. Es stimmt auch, dass ich mit der Reise zum Mond den typischen Situationen des Regionalkrimis mal entfliehen wollte. Es hat mich einfach gereizt, mich mit meiner Vorstellungskraft an einen Ort zu begeben, den ich noch nicht kenne und ihn schreibend kennenzulernen. Ich hoffte, dass meine Leser/innen das auch reizvoll finden.

Henny Hidden: Deine Hauptprotagonistin ist Lisa Nerz. Mit all ihren Ecken und Kanten ist sie eine Figur, die meines Erachtens auf Widerspruch bei Männern, aber vor allem bei Frauen, stoßen muss. Kannst Du mir diesen Eindruck bestätigen, wenn Du an Deine Lesungen denkst? Gibt es typische Einwände?

Christine Lehmann: Nein, gar nicht. Wenn Männer und Frauen sich dieser Figur reiben, dann sagen sie es mir zumindest nicht. Es hat sich bisher immer als schwierig erwiesen, etwa nach Lesungen, das Gespräch darauf zu bringen. Mich würde nämlich brennend interessieren, was meine Leser/innen an Lisa Nerz so toll finden. Aber das lässt sich offenbar nur schwer ausdrücken. Lesen ist ja auch eine ganz private Sache, und die Beziehung, die meiner Leserinnen und Leser (es sind genauso viele Männer wie Frauen) zu Lisa Nerz haben, bleibt privat. Die meisten wollen gern wissen, ob ich selbst mich in Lisa Nerz verwirkliche. (Nebenbei auch, ob ich lesbisch bin.) Natürlich hat Lisa Nerz Anteile von mir, aber sie ist nicht der Mensch, der ich gerne wäre oder gar bin. Als Detektivin muss sie frecher und agiler sein, sich in Todesgefahr begeben und hohe Risiken eingehen, ein Verhalten, das meiner bürgerlichen Seele fremd ist. Ich finde es ganz lustig, wenn Lisa sich wieder mal zusammenschlagen lässt, aber ich möchte ihre Schmerzen nicht selbst haben. Als ich Lisa Nerz vor ungefähr 15 Jahren entwickelt habe, ahnte ich nicht, welches Potential in ihr steckt. Sie verweigert sich der Frauenrolle genauso wie der Männerrolle und spielt beide, wenn es sein muss. Mir persönlich ist der gemütliche Rückzug in die neue Weiblichkeit (Frauen können nicht einparken) und Männlichkeit (Männer können nicht zuhören) zutiefst suspekt. Dass Frauen nur dann gesellschaftliche Anerkennung bekommen, wenn sie sehr weiblich sind (am besten noch Kinder haben), gefällt mir nicht, genauso, wie ich den Rückzug der Männer in ihr männlich-kriegerisches Gebaren nicht nützlich für die gesellschaftliche Entwicklung finde. Lisa Nerz demonstriert auf ihre Wiese ständig, dass Geschlechterrollen öde sind und dass Lebendigkeit und Kreativität im Bruch mit Erwartungen geschieht.

Henny Hidden: Kannst Du für Dich letztendlich den Grund benennen, warum Du dieser Figur ausgesprochene männliche Dominanten mitgegeben hast? Liegt es eher daran, dass sich damit mehr, oder besser, andere Möglichkeiten bieten, die Handlung im Krimi in eine bestimmte Richtung zu drängen oder würdest Du persönlich motivierten Argumenten den Vorzug einräumen? Etwa in dem Sinne, dass man als Autorin beim Schreiben etwas ausleben kann, was im wirklichen Leben nicht akzeptiert wird, weil es als unfraulich gilt und Befremden hervorruft.

Christine Lehmann: Und jetzt kommt die Frage, die ich oben versucht habe zu beantworten. Lisa Nerz hat keine ausgesprochen männlichen Dominanten, sie ist tatsächlich weder Mann noch Frau im Sinne einer Gender-Identität. Deshalb reitet sie (reite ich) immer wieder auf dem Motiv ihrer Identitätslosigkeit herum. Lisa Nerz ist ein Experiment, (und weil sie mein Experiment ist, siehst sie sich selbst auch so) wie man wohl durch kommt (und ich glaube besser), wenn man sich nicht an weibliche oder männliche Rollenerwartungen hält. Allerdings kommt man damit natürlich gar nicht weiter, wenn man in Betrieben oder Behörden Karriere machen will. Weshalb Lisa Nerz keine Karriere hat, sondern Vermögen.

Henny Hidden: Du sagst in Deinem Artikel „Doch die Idylle trügt“*: „…weil Lisa Nerz kämpfen können musste, ohne zu töten.“. Weiter lese ich, dass Du es mit Deinen Überzeugungen nicht vereinbaren kannst, dass diejenigen, die in diesem Krimi töten, Frauen sind. Und an anderer Stelle monierst Du, dass in den Krimis Gewalt immer nur mit Gewalt beigekommen wird, staatliche eingeschlossen. Ein edles Vorhaben in einer gewaltgeprägten Welt und ich beziehe mich jetzt nicht nur auf die körperliche Gewalt. Ist Lisa Nerz eine Aufschneiderin?

Christine Lehmann: Ich merke an dem Krimi, den ich gerade schreibe „Mit Teufelsg’walt“ (Ariadne, September 2009), dass meine Figuren, auch Lisa Nerz, mit der Gewalt, die ihnen begegnet, nicht mehr fertig werden. Ihnen bleiben die Worte weg, sie sind nicht mehr fähig, zu einer Bewertung zu kommen, die da lauten könnte: Diese Personen sind gut, die anderen schlecht, und wir schaffen es, das Böse zu bekämpfen und der Gerechtigkeit wenigstens für den Augenblick eines geglückten Plots zum Triumph zu verhelfen. Es geht in diesem Krimi um das Jugendamt, um Inobhutnahmen von Kindern und um Familien am Rand der bürgerlichen Gesellschaft. Und da gibt es keine befreienden Lösungen mehr. Vor allem Richard Weber hat die Funktion, die ganz simple moralische Orientierung zu schaffen, dass das Töten oder auch nur Gewalt kein geeignetes Mittel zur Konfliktlösung ist. Eine Überzeugung, die ich mit ihm teile. Lisa Nerz dagegen hat – als fiktive Figur – schon getötet und damit ihr eigenes Leben gerettet. Sie reagiert, folglich reagiert sie bei Gewalt auch gewalttätig. Ich als Autorin denke, dass ich im Krimi, der von Gewalt handelt, die Möglichkeit habe, die verheerende Wirkung von Gewalt zu beschreiben. Lisa Nerz hilft mir mit ihrem optimistischen Haudegen-Wesen zu Befreiungsschlägen, die aber natürlich nur scheinbar sind.

Henny Hidden: Mich hat es gestört, wie Du sie mit der Pistole rumfuchteln lässt. Ich dachte, vollkommen irrational, wie die sich verhält. Was will sie damit als Außenstehende und dann noch auf einer Raumstation erreichen? Als Leser sieht man das ja etwas rationaler. Und eine Protagonistin, die einen Fall aufklären will, unberechenbar zu erleben, irritiert ja auch mächtig.

Christine Lehmann: Stimmt, Lisa verhält sich oft irrational. So wie wir alle, übrigens. In unserer Kommunikation ist der Anteil von irrationalem Verhalten ist ja viel größer als der von rationalem Verhalten. In einem Krimi muss die Protagonistin auch mal mit einer Waffe fuchteln oder in Lebensgefahr geraten. Wenn Lisa Nerz das tut, wenn sie also martialisch auftritt, dann geht es ihr (und mir) meistens darum, eine Situation, die nach festgelegten Regeln abläuft, so zu stören, dass die bekannten Verhaltensmuster nicht mehr funktionieren. Sie chaotisiert, um die Leute aus der Reserve zu locken und dazu zu zwingen, dass sie ihre wahren Gesichter zeigen, nicht die aufgesetzten Masken bestens trainierter situationsadäquater Verhaltensmuster. Wenn Lisa mit einer Waffe fuchtelt, weiß sie hinterher, wer mutig ist, wer Angst hat. Wenn sie jemanden ohrfeigt, weiß sie, wer zurückschlägt, und wer nicht. Und so weiter. Deshalb benimmt sich Lisa Nerz oft so gänzlich daneben, eben scheinbar völlig irrational.

Henny Hidden: Auch wenn ich wie Du Gewalt ablehne, denke ich, dass es durchaus legitim ist, weibliche Protagonisten auf Unterdrückungsverhältnisse mit Gewalt antworten zu lassen. Es muss ja keine Rambo sein. Eine Fiktion muss auch nicht mit den Erfahrungen der Wirklichkeit übereinstimmen, wenn man etwas exemplarisch und zugespitzt deutlich werden lassen will. Und wenn Frauen, die allgemein gesprochen Kinder gebären und Leben erhalten, gezwungen werden oder durch Umstände dahin gelangen, Leben zu vernichten, erfährt die vorgeführte Gewaltanwendung eine besondere Eindringlichkeit. Ich glaube, es hängt in erster Linie von dem Gesamtanliegen ab, inwieweit ein Autor seine Figur unter geschlechtsspezifischem Aspekt zum Mörder macht.

Christine Lehmann: Wann Gewalt legitim ist, und wann nicht, ist eine Streitfrage, die keine Antwort hat. Wir neigen dazu, Gewalt gegen das Böse für legitim zu halten (Hitler hätte man töten müssen!). Aber wer entscheidet, wer böse ist? Folglich wird jede Gesellschaft das mit Gewalt vertreiben, was sie für sich und ihre Gemütlichkeit als schädlich betrachtet. Da gilt aber auch schon für Neonazis, die einen Ausländer töten, weil er sie stört. Es gibt sicherlich kein Argument für Gewalt, das einer rationalen Prüfung standhalten würde. Gewalt ist so ungeheuerlich schädlich, so vernichtend, so Unglück schaffend, so Gewalt produzierend, dass ich mich schon lange wundere, warum unsere Gesellschaften so hartnäckig an diesem, am aggressiven Prinzip der Konfliktlösung festhalten (auch und vor allem an Verbalaggressivität). Alle Herrschaftsstrukturen (auch Firmenhierarchien) sind mit Gewalt durchtränkt, und wirklich gut funktionieren tun sie ja nicht. Sie behindern Kreativität und Produktivität. Alle Kriege sind verheerend und kommen nie zu einem Ende. Eine Frau, die ihre Neugeborenen tötet, gibt Gewalt weiter, eine Frau, die ihren Vergewaltiger tötet, antwortet mit Gewalt. Das Ergebnis ist immer Krieg. (Der Geschlechter, der Völker, der Gruppen.) Wollen wir das? Ja, ganz offensichtlich.

Henny Hidden: Kommen wir mal zu den Männern. Ein Satz in Deinem Krimi lautet: „bei Männer geht es um „…weiter pinkeln, öfter vögeln, Geld haben und Gott sein.“ Was mich veranlasste, mal über Männer und Frauen generell nachzudenken. Ich habe überlegt, welche Seiten ich am jeweiligen Geschlecht am meisten schätze. Bei Frauen brauchte ich nicht lange überlegen. Wenn ich mit Frauen zusammentreffe, finde ich meistens schnell eine Ebene, weil wir einen gemeinsamen Erfahrungshorizont haben, was die Beurteilung des männlichen Geschlechtes angeht. In dieser Hinsicht habe ich mich in Lisa Nerz wieder gefunden. Zu meiner Überraschung fiel es mir schwer, etwas Gemeinsames, was ich an Männer schätze, zu finden. Vielleicht noch die direkte Art, Dinge anzugehen oder beim Namen zu nennen. Hattest Du Schwierigkeiten, dem Kommandanten, der ja in der Rangordnung der männlichen Artemisinsassen den obersten Platz einnimmt, positive Züge mitzugeben oder spielte das keine Rolle in Deinen Überlegungen? Er kam mir nur negativ gezeichnet vor.

Christine Lehmann: Was Lisa Nerz über Männer und Frauen sagt, hat nichts mit dem zu tun, was ich über Männer und Frauen denke. Lisa Nerz provoziert nur. Aber klar habe ich Erfahrungen mit typisch männlichem und typisch weiblichem Verhalten in meiner Umgebung. Und auch ich unterliege der Versuchung, bestimmte Verhaltensweisen dem Geschlechtstyp zuzuordnen. Aber ansonsten bin ich genauso gern mit Männern wie mit Frauen zusammen und finde auch mal mit einem Mann mal mit einer Frau schnell eine gemeinsame Ebene. Und natürlich musste der Kommandant der Artemis negativ gezeichnet werden, und das war überhaupt nicht schwierig. Es ist sehr viel leichter, Figuren mit negativen Aspekten auszustatten, als sie gut und edel daherkommen zu lassen.

Henny Hidden: Immer wieder wird die Frage diskutiert, ob Frauen anders als Männer schreiben. Und immer wieder spalten sich die Diskutanten in Befürworter und Ablehner. Ich denke, bei einzelnen anerkannten Krimiautorinnen kann man das so ohne weiteres nicht erkennen. Z. B. würde ich das bei Fred Vargas so sehen. Dennoch bin ich überzeugt, dass Autorinnen, die mit einem sozialkritischen Impetus herangehen, deren Schreiben unter einem Blickwinkel von unten nach oben erfolgt, sich in der Konzeption und in der Schreibweise von ihren männlichen Kollegen unterscheiden können. Weil zu diesem Blick das Aufdecken der männlichen Herrschaftsstrukturen dazugehört. Würdest Du mir da zustimmen?

Christine Lehmann: Darüber könnte ich eine Doktorarbeit schreiben. Und wenn ich hier antworte, dann leider ohne die nötigen Belege. Mir sagt man nach, dass ich männlich schreibe, weshalb meine Krimis irritieren. Sie sind nicht so leicht einzuordnen. Sie bedienen viele Klischees nicht. In allen Krimis habe ich das Herrschaftssystem im Blick, das ich männlich-terroristisch nenne und, so gut es geht, als sinnlos und gewalttätig zu entlarven versuche, samt den Frauen als Helferinnen. Ließe man eine Frau und einen Mann dieselbe erotische Szene beschreiben, würde man schnell merken, dass Männer sich und Frauen anders sehen als Frauen sich und Männer und hätte den Beleg dafür, dass Männer und Frauen anders schreiben. Ich finde es wichtig, dass Frauen sich schreibend aus der Opferrolle herausbewegen. Und ich finde es ungeheuer langweilig, dass Männer sich und ihre Krimi-Protagonisten fast immer in einer melancholischen Einzelgängerrolle darstellen. Aber auch da wirken schon unterschiedliche ästhetische Prinzipien, die zu unterschiedlichen Texten führen. Das Kuriose ist, dass Frauen schreiben können wie Männer, aber Männer nicht wie Frauen. Frauen haben gelernt, sich in die Männerwelt einzudenken und einzufühlen (als Unterlegene müssen sie die Mächtigen verstehen, sonst überleben sie nicht), Männer aber brauchten das nie. Sie leiden bestenfalls daran, dass sie die Frau, die sie haben wollen, nicht bekommen und schreiben darüber anklagende Romane, aber sie haben nicht gelernt zu verstehen und schreibend nachzuvollziehen, nach welchen Kriterien Frauen sich verhalten. Dazu muss man nämlich wissen und erfahren haben, was es heißt, stets potentielles Opfer männlicher Gewalt zu sein, wo immer man ist und was auch immer man tut. Und diese Erfahrung fehlt Männern. Sie haben vielleicht auch Angst, nach dem Fußballspiel zusammengeschlagen oder von Männern ausgeraubt zu werden, aber sie sind eben auch die potentiellen Täter und Vergewaltiger, die Frauen von klein auf fürchten gelernt haben.

Henny Hidden: Du erwähnst in Deinem Artikel die spanische Autorin Alicia Giménez Bartlett, die in ihrem Krimi jeden Dialog ihrer Protagonistin mit Kollegen auf Macho-Machtgehabe untersucht. Ein spannender Ansatz. So könnte der Begriff „Frauenkrimi“ ins Positive gewendet werden. Bis jetzt wird ja das Etikett „Frauenkrimis“ abwertend auf jene Krimis gepappt, die weltbeschränkt in Frauen zugeordneten Bereichen angesiedelt sind und in denen Frauen untereinander mit psychologischer Raffinesse agieren. Das Pendant zu „männlichen“ Krimis zu finden, fällt da nicht schwer. Aber eigentlich geht es ja nicht um „Frauenkrimi“ oder nicht. Es geht um bestimmte Qualitätsmaßstäbe, die für einen gelungenen Krimi stehen. Und da wären wir beim Regionalkrimi.

Christine Lehmann: Unsere gesamte Kultur wird von Männern beherrscht, sie bestimmen, was gut und was schlecht ist. Literaturpreise werden nur selten an Frauen vergeben (und wenn, dann nur an solche, die sich schreibend stark weiblich präsentieren, meist subtil in Opferhaltungen). Es gibt Krimis (also eigentlich Männerkrimis) und Frauenkrimis, was besagt, dass Krimis von Frauen eben eine Randerscheinung sind und am Rand des kulturellen Diskurses gehalten werden sollen. Frauen sind der Sonderfall der Kultur. Immer noch. Keine Frage, dass das borniert ist. Es gibt unendlich viele schlechte Krimis von Männern. Da darf es auch schlechte von Frauen geben. Sie sind nur auf andere Weise schlecht als die von Männern. Die Kriterien für gut und schlecht aufzuzählen, dazu ist hier nicht der Platz. Als Literaturwissenschaftlerin weiß ich allerdings, dass es eine Reihe von Kriterien gibt, mit denen man Texte objektiv beurteilen kann. Der Regionalkrimi ist nun allerdings keine Gattung, sondern eher ein Begriff der Verkaufsstrategie.

Henny Hidden: Nicht nur Buchhändler haben erkannt, dass Autoren den Lokalkrimierfolg kalt kalkulieren. Verlage sowieso und Autoren bleibt oft keine andere Wahl, um auf den Markt zu kommen. Deine Erfahrungen sind ja in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich. Ich habe mal die für mich wichtigen Punkte, mit denen Du einen Regionalkrimi charakterisierst, zusammengefasst.
Der Regionalkrimi setzt auf Gelächter, um die Geschichte aufzuwerten. Der Regionalkrimi setzt auf Vertrautheit. Der Regionalkrimi, der Lokalkolorit mit Laienkriminalistik und Lynchjustiz mischt, ist wirklichkeitsfremd. Auch wenn der Regionalkrimi vorgibt gesellschaftskritisch zu sein, ist er es nicht. Er befindet sich auf dem journalistischen Niveau des „Spiegels“. Der Regionalkrimi beruhigt die Leser, indem er Gewalt isoliert und Personen zuordnet. Er bestätigt den Glauben, dass Gewalt nur mit Gewalt beizukommen ist. *
Daraus folgerst Du, dass der Regionalkrimi nicht die Denkmuster infrage stellt, die zu Gewalttaten, wie gekränkte Ehre, Eifersucht, Machtsicherung führen. Ich würde jetzt gern von Dir erfahren wollen, wie Du Dir einen guten Regionalkrimi vorstellst?

Christine Lehmann: Es gibt affirmative Literatur und solche, die gesellschaftliche Verhältnisse, insbesondere die Strukturen, die uns meist verborgen bleiben, weil wir uns in ihnen eigerichtet haben und sie beherrschen, hinterfragen und bloßstellen. Wahrscheinlich verkauft sich grundsätzlich leichter, was die allgemeine Gemütlichkeit nicht infrage stellt, Klischees bedient, Bekanntes abklappert (eben auch bekannte Orte) und sprachlich nicht zu anspruchsvoll ist. Mich langweilen Krimis, die mir die immer gleiche Geschichte (Mord, Mauschelei in Firma, Geldwäsche und mordende Ehefrau) erzählt, und das auch noch kriminalistisch naiv und veraltet. Aber viele langweilt das nicht. Und wenn ein Kollege damit gutes Geld verdient, dann soll er das tun.

Henny Hidden: In gewisser Weise hast Du es ja schon allgemein postuliert, indem Du Eva Maria Heims Krimi „Das Rattenprinzip“ beispielgebend dafür anführst, wie eine Krimihandlung mit einer Region verschmolzen wird, dass sich die Geschichte so nirgendwo anders abspielen kann. Da stimme ich Dir schon voll zu, ich interpretiere das auch so, dass die Besonderheiten einer Region mit einem allgemeinen Wertekanon verbunden werden müssen. Damit reduzieren sich aber auch die Möglichkeiten der Gestaltung. Oder sehe ich das zu eng?

Christine Lehmann: Wenn man sich einen Ort sucht, der keine unverwechselbare Geschichte in sich birgt, dann hat man als Autorin oder Autor Pech gehabt. Dann muss man sich einen anderen suchen, oder man erzählt eine Geschichte, die einfach nur irgendeinen Ort braucht, aber nicht diesen. Auch ich verfahre durchaus so, dass ich mir nicht zuerst einen Ort aussuche, zuweilen steht auch die Geschichte, die ich erzählen will, am Anfang.

Henny Hidden: Christine, was kommt nach dem Besuch auf dem Mond? Muss Lisa Nerz jetzt wieder zwischen Fachwerkhäusern recherchieren?

Christine Lehmann: Wie schon angedeutet: Lisa Nerz recherchiert im Jugendamt. Es geht um Kinder und darum, wie wir mit ihnen umgehen. Es geht um Erziehungsgewalt und Unfähigkeit, um falsche Entscheidungen und die zu große Macht des Jugendamts und bei gleichzeitiger völliger Ohnmacht. Bei der Recherche hat sich das Thema als viel brisanter herausgestellt, als ich eigentlich dachte. Es ist ein Krimi, der die Leser/innen, die sich darauf einlassen, nicht unberührt lässt. Gewiss nicht.

Henny Hidden: Vielen Dank für das Interview.

* Christine Lehmann, „Doch die Idylle trügt. Über Regionalkrimis“, in Das Argument 278, 50 Jg., 2008